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The stress concept – in theory and practice more modern than ever

Abstract: The concept of stress is theoretically and methodologically examined and described within the framework of human action regulation as a mediator between health and disease. Using the examples of various clinically relevant disorders (burnout, grief reaction, the process of dying) and the pathogenesis of somatic disorders, some new findings concerning stress are presented. The primary conclusion arrived at is that stress, in theory and practice, is more relevant than ever. Stress in a medical context, as a function of epochal transformation, as well as current intervention approaches are experiencing a boom.

Theoretisch-methodologische Pro- blematisierung. Kaum ein in die Jahre gekommenes wissenschaftliches Konzept hat eine derart bewegte Geschichte wie das Stresskonzept. Es ist schon mehrfach als überholt, nicht präzise definierbar, durch andere zu ersetzen und in seinen interventiven Potenzen als unscharfes Allerweltskonzept angesehen worden.

Letztendlich ist es als Alltag- svokabel in den öffentlichen Sprachgebrauch gelangt und hat dort jegliche wissenschaftliche Stringenz verloren. Das ist aber nur die eine Seite der Geschichte. Die andere zeigt sich darin, dass das Konzept offenbar nicht zufallsbedingt ein langes Leben hat und nicht gleich anderen konzeptionellen Modernismen im Gegenstandsfeld von Gesundheit und Krankheit die eigene Konjunktur nicht überlebte. Es ist eher aus mehreren Phasen der Stagnation seiner Konzeptentwicklung durch neue Erken-ntnisse bereichertherausgekom- men und in seiner heuristischen und interventiven Substanz bestätigt worden. Wir haben diesen Prozess über Jahrzehnte begleitet und auf Entwicklungstendenzen hin-gewiesen (u. a. Scheuch & Schröder, 1990; Schröder, 2002b). Dabei zeigte sich als eine entscheidende Potenzdes Stresskonzeptes seine Auslegung im Sinne des potenziellen Geltungsbereiches.

Dies fand seinen Ausdruck in Formulierungen wie „humanwissen- schaftliches Integrationskonzept―,

„Mittler-konzept zwi-schen Gesundheit und Krankheit― sowie in Hinweisen auf seine grundlegende Bedeutung

(„Basiskonzept―) für die Reflexion menschlicher Regulationstäti-gkeit unter Belastung-sbedingungen. Und darin scheint das eigentliche „Lebenselixier― zu bestehen. Will man sich das Stresskonzept in seiner eigentlichen Potenz zunutze machen, so bedarf es einer Besinnung auf seinen

methodologischen Standort im Kontext menschlicher Aktivität und darauf, welche erkenntnistheoretische Position Defini-tionen haben. Die immer wieder geäußerte Hoffnung auf eine generell „gültige― Definition ist eine

Fehlerwartung.

Definitionen sind zumeist nicht richtig oder falsch, sondern eher mehr oder weniger nützlich. Sie können nicht alle Aspekte eines Phänomens S_1_ Schröder_ VPP_03_2016.indd 1 20.07. 2016 23:15:45 Verhaltenstherapie 2 & psychosoziale Pra-xis Schwerpunkt Harry Schröder in sich vereinigen, aber aspektbezogen bestimmte Seiten dessen in den Mittelpunkt stellen. So kann man im Rahmen eines Anforderungs- Bewältigungsparadigmas Stress als eine negative Beanspruchungsfolge ansehen. Das würde nicht gegen andere definitorische Akzentsetzungen sprechen und ihnen die Nützlichkeit absprechen. Damit wären z. B. auch manche Kontroversen zum Sinn einer Unterscheidung von Eu- und Disstress überflüssig, da je nach Kontext sinnvoll und zweckmäßig oder auch nicht.

Im vordergründigen Vergleich bisher konzipierter negativer

Beanspruchungs-folgen scheint Stress gleichrangig neben anderen zu stehen – neben Ermüdung, Monotonie,

Frustration und Sättigung (Abbildung 1). Geht man allerdings vom konzeptionellen Rang des

Stresskonzeptes aus, so ist der Geltungsbereich viel weiter. Das Konzept umfasst das gesamte Spektrum psychophysischer Verhal-tensregulation und gestattet, die gesamte

Interdisziplinarität von Forschung und Praxis in eben diesem „humanwis- senschaftlichen Integrati-onskonzept― zu vereinigen. Die zum Teil

bahnbrechenden aktuellen Befunde aus den Referen-zwissenschaften zum Thema sind nicht additive Punkte einer Datenhalde und lediglich von einem Alibi-Schirmkonzept überdacht.

Sie haben ihren definierten Stellenwert im hierarchisch aufgebauten biopsycho-sozialen Funktionssystem

men-schlicher Aktivität und

repräsentieren dieses vom

stressassoziierten Entzündungs-

geschehen in einer Zelle über endokrine Vermittlungen bis hin zu

stressbedingenden Faktoren der gesell- schaftlichen Entwicklung von

stressaffinen genetischen Veränderungen in der Vorgeburtsphase bis zu pathologischen Veränderungen von

Hirnstruktur und chronischen

Krankheiten. Gesundheit-sförderliche Schlussfolgerungen sind davon

ausgehend möglich.

Stress im Rahmenkonzept

menschli-cher Verhaltensregulation Vor allem psychologisch akzentuierte Konzepte von Stress gehen vom Bild eines handelnden Subjektes.

Abbildung1: Negative Beans-

pruch-ungsfolgen mit interventiven Empfehlungen verhindert, beeinträchtigt― Sättigung Belastetheitsform Erholungs - Bewälti-gungsmaßnahme „Ich fühle mich müde „Ich fühle mich gelangweilt― „Ich fühle mich verletzt, Aus- ruhen/„Pausieren―, unter-haltsame

Fernsehsendungen ansehen, Lesen, Dösen und Schlafen, Spa-zierengehen, Sauna Niveauvolles / Anregendes Anspruchsvolle Literatur lesen,

Strategiespiele betreiben, Internet- Surfen, Rätsel lösen, Sport treiben, Gartenarbeit, Ausgehen Angenehmes tun, Selbstverstärkung Essen gehen, Einkäufe, „sich etwas leisten―, mit wohlwollenden Personen Kontakt haben, Sauna, Maniküre „keinen Bock mehr haben, genug desselben― „ich fühle mich unter Druck, stehe unter Strom― Tätigkeits- und Milieuwechsel Auszeit nehmen und Distanz zu Personen, Arbeit schaffen, Ort: Urlaub, Sabbatical,

„alleine― verreisen, etwas unternehmen An Problemlösung arbeiten Reizmenge reduzieren, mit guten Freunden sprechen, konzentrative Selbstentspannung,

psychische, physische und soziale Ressourcen sichern, Handlungsplan machen Stress Frustration und ausgelaugt― Monotonie Ermüdung Energie tanken S_1_Schröder_ VPP_03 _2016.indd 2 20.07.2016 23:15:47 47. Jg. (1), 63-76, 2015 3 Das Stress konzept – in Theorie und Praxis moderner denn je Schwerpunkt aus, das mit Bedürfnissen und Fähigkeiten

ausgestattet, Anfor-derungen seines Lebensbereiches zu bewältigen hat. Da das Verhältnis zwischen Mensch und seinem ökologischen Anforder-

ungsspektrum grund-legend wider- sprüchlich ist, bedarf es stetiger Regulationsbemühungen, um immer wieder ein möglichst ausgeglichenes („kongruentes―) Mensch-Umwelt-

Verhäl-tnis herzustellen. Diese

Widerspruch-sminimierung sichert die Stabilität des Individuums auch in seiner Selbstor-ganisation („Konsistenz―). Als Führungsgröße dieser Aktivität fungieren Grundbedürfnisse.

Sie repräsentieren die Parameter, die das psychophysische System „Mensch― ausmachen und gegen die nicht auf Dauer, d. h. kritische Grenzen überschreitend, verstoßen werden darf. Das gilt in biopsychosozialer Sicht für alle Regulationsebenen – von der biologischen (etwa Parameter wie Temperatur, Flüssigkeit und Energie) bis hin zum psychosozialen Existenzniveau mit den Grundbedürfnissen nach Orientierung und Kontrolle, Lustgewinn und Unlustve-rmeidung, sozialer Integration und Selbstwertsicherung/ Selbstentwick-lung. Das Stresskonzept thematisiert einen für die Sicherung der menschlichen Existenz bedeutsamen psychophysischen Regula-tionszustand: Das jeweils individuelle und situationskonkrete Mensch-UmweltVer- hältnis weist in diesem Fall eine Widerspruchsqualität auf, die mit üblichen Verhaltensroutinen und emotion-sgesteuerten Reaktionsautomatis-men nicht mehr auszugleichen ist. Das wird subjektiv als Bedrohung und Verunsiche-rung erlebt und führt mit vor allem angstgetönter Emotionalität zu mehr oder weniger effektiven Reaktionen und Verhal- tensweisen.

Hier setzen Zusatzregulationen ein, die dem Menschen als Reservereaktionen sowohl genetisch gegeben sind als auch als Varianten von Copingverhalten gelernt wurden. Mit diesem

konzeptionellen Zugang wird „Stress― als eine Qualität psychobiotischer Regulation beschrieben, die als zweckmäßige Reaktion und als Verhalten in kritischen Belastungslagen eintritt. Er ist offen für Präzisierungen und Konkretisierungen hinsichtlich genetischer, somatischer, psychischer und sozialer Mechanismen des Gesamtgeschehens und für Effekte im Sinne eines mehr oder weniger erfolgreichen Gelingens von

Regulationstätigkeit. Das ist die Perspektive von Folgezuständen hinsi- chtlich der psychophysischen Stabilität der Individuen im Kontinuum zwischen Gesundheit und Krankheit. In diese Richtung gehend hat sich die Konzipierung von Stufen der Destabilisierung und Zusatzregulation unter Belastungsbe-dingungen als nützlich erwiesen. Sie haben eine handlungsregula-torische Basis, sind theoretisch orientierend und von praktischer Relevanz (Abbildung 2).

Stress als Mittlerkonzept zwischen Krankheit und Gesundheit Abbildung 2 stellt Stufen der Destabilisierung menschli-cher Regulationstätigkeit unter Belas-tungsdruck dar. Eine Eskalation des Misslingens mit Gesundheits-/ Krankheits-folgen ergibt sich von Stufe I bis Stufe IV.

Unter I. sind Qualitäten von Routineregulation beschrieben – alltägliche Anforderungen sind nicht bedürfnisbed- rohend und können weitgehend „automa- tisch― erfüllt werden. Auftretende Wider- sprüche zwischen zumeist elementaren Umgebungsbe-dingungen und dem eigenen Erwartungsmuster der Situation werden emotionsbasiert und kognitiv

korrigiert gelöst. Bei punktuellen Zuspitzungen einer widersprüchlichen Mensch-UmweltSitua-tion können Pläne und Ziele generiert werden, die zu Hand- lungen führen, die wiederum kognitiv „überwacht― werden. Das ist der Normalfall alltäglicher Verhaltensre- gulation zur Sicherung einer adaptiven Passung von Mensch innerhalb sich stetig ändernden System-Umgebungen. Er erfordert keinen zusätzli-chen Regulationsaufwand, keine außer- gewöhnliche energetische und emotionale Mobilisierung.

Gelingt ein solcher Ausgleich nicht und führen Belastungs- und Bewälti- gungsbewertungen zur Signalisierung einer bedürfnisbezogenen Bedrohung, so wird ein Notfallprogramm hinzu- geschaltet, das seit den klassischen Konzeptionen als Stresszustand / Stressreaktion bezeichnet wird (Stufe II: acuter Stress).Sie stellen eine zweck- mäßige psychoenergetische Bereit- stellungsreaktion zur Problemlösung in der zugespitzten Lebenslage dar. Das Ergebnis hängt von der Angemessenheit der Lösungsversuche unter Nutzung gegebener Ressourcen dar. Gelingt der Lösungsversuch, so ist diese Phase zeitlich begrenzt und wird als akuter Stress bezeichnet.

Die Regulation schaltet wieder auf Routineregulation (Stufe I) zurück. Über die erfolgreiche Bewältigung immer wieder auftretender akuter Stressitua- tionen gewinnt das Individuum Erfahrung und Kompetenzen.

Dies ist ein grundlegender Vorgang jeglicher Persönlichkeitsentwicklung. Bis hierher thematisiert das Konzept Regulationsqualitäten, die dem Niveau „Gesundheit― entsprechen. Gesund- heitsriskant wird der Belastet- heitszustand erst, wenn es nicht gelingt, den bestehenden Mensch-Umwelt- Widerspruch zu lösen. Den Übergang zur

Regulationsstufe III wird zunächst als Irritation und Orientierungskrise erlebt und geht in S_1_ Schröder_ VPP_ 03_2016.indd 3 20.07.2016 23:15:48

Verhaltenstherapie 4 & psychosoziale

Praxis Schwerpunkt Harry Schröder eine Dauermobilisation (chronischer Stress) über. Bisherige Lösungsversuche haben sich als ineffektiv erwiesen; die Perspektive der Betroffenen ist unklar, das Selbstwerterleben beeinträchtigt, die Handlungsorganisation irritiert. Sie wird mit weiteren Zuspit-zungen der kritischen Gesamtlage immer weniger zielführend (desorganisiert). Entspre- chend der schon von Selye (1936) beschriebenen „Erschöpfungsphase―brauchen sich bestehende Reserven nach und nach auf.

Damit ist ein psychophysischer Risikozustand erreicht. Ohne interventive Hilfe besteht die Gefahr weiterer Eskalation: Multiple Funktionsstörungen und psychovegetative Reaktions- bildungen verfestigen sich. Damit erfolgen pathogenetische Weichenstel- lungen mit Herausbildung einer jeweils charakteris-tischen Symptomatik, die weiterführend auf der Destabilisierungs- stufe IV die Qualität einer „Krankheit― erreichen. Betroffene haben nunmehr den Status „Patient―, werden mit einer Diagnose klassifiziert und sind damit im weitesten Sinne ein medizinscher Fall. In dieser Sicht sehen wir „Stress― als vermittelndes Konzept zwischen „Gesundheit― und „Krankheit― an, das für eine große Zahl von psychisch und somatisch manifestierten Krankheiten einen Verursachungszusammenhang aufzeigt.

Das Stresskonzept in Relation zu klinisch relevanten Phänomenen Der geschilderten Auffassung wird in der Regel kaum widersprochen. Sie ist zumindest als Grundgedanke in der ersten wissenschaft-lichen Konzeption von Stress (Selye, 1936) enthalten. Dieser Modellansatz wird jedoch kaum in seiner verhaltensregulatorischen Charakteristik für die Erklärung und auch gezielte Beeinflussung anderer kra- nkheitsrelevanter Phänomen gewürdigt und genutzt. Stress wird eher als ein spezielles Phänomen neben anderen gesehen, nicht aber als fundierendes, universelles, basales Regulations- geschehen von Menschen in kritischen Anforderungssituationen. Die Hinlen- kung der Aufmerksamkeit auf die eigentliche Stresscharakteristik von Phäno-menen wie Burnout, anhaltender Trauer, Resilienz/Non-Resilienz, Erleben und Verhalten in der finalen Lebensphase usw. hilft, diese Phänomene in einem erweiterten Konzeptrahmen zu sehen und daran zu partizipieren.

Abbildung2: Stufen der Zusatzr- egulation und Destabilisierung unter Belastungsbedingungen I. II. III. IV. durch:

  • Handlungsroutinen;
  • Automatismen;
  • Kognitiven Ausgleich. Handlungsaktivierung durch: - Bedrohungskognitionen; - Negative Emotionen.

Dauermobilisierung Längerfristiges Anpassungssyndrom - Aufzehren von Reserven psychovegetative Reaktions- bildung Mit „Krankheitswert― Akuter Stress Chron. Stress – emotionsbasierte Regulation – kognitionsgesteuerte Handlung - keine Notfall-Signalisierung - Stress-Kognitionen, Unsicherheiten / Angstäquivalente – psychophysische Mo-bilisierung – ineffizientes Handeln - Verlust von Zukunftsbezogenheit – Angst / Depressivität - Verlust von Erho- lungsfähigkeit - Schutz- und Abwehrstra- tegien - „Symptome als Kompensations- Phänomene― - manifeste vegetative Störungen Ausgleich Qualitätsstufe

Chro-nische Krankheit Charakteristik S_1_Schröder_VPP_03_2016. indd 4 20.07.2016 23:15:48 47. Jg. (1), 63-76, 2015 5 Das Stress konzept – in Theorie und Praxis moderner denn je Schwerpunkt Burnout: Nach so

manchen kontroversen Diskussionen zum Wesen und Stellenwert von Burnout im Bereich von psychischen und somatischen Störungen gab es 2012 eine klärende Positionsbestimmung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN, 2012), die in etwas modifizierter Form in Abbildung 3 dargestellt ist. Aus der Wechselwirkung von individuellen und Arbeits- platzfaktoren können sich aktuelle Überforderungszustände (1.) ergeben, die bei anhaltender Belastungslage zu einem personalen Risikozustand (2.) führen, der bei weiterem Bestehen in eine Krankheit mündet (3.). Umgekehrt können aber auch primär bestehende somatische und psychische Erkran- kungen (4.) anderer Genese zum gleichen anhaltenden Belastungsbild führen. Vergleicht man die hier beschriebenen eskalierenden Zustands- positionen, so erkennt man darin unschwer die im allgemeinen Stressmodell beschriebenen Eskala- tionsstufen (II. = akuter Stress, III. = chronischer Stress, IV. =

psychovegetative Reaktionsbildungen von Krankheitswert).

Dieser Vergleich weist auf den fundierenden Status des Stresskonzeptes hin, das hier in einer situations- konkretisierten Gestalt das Wesen des Burnout-Phänomens aufzeigt und spezielle interventive Konsequenzen auch für die Therapiephase begründet.

Trauerreaktion, Trauerkrankheit: Menschen, die gravierende Verluste hinnehmen mussten, greaten in depressionsaffine Zustände, die sich zu anhaltendem Leiden und Handlungsun- fähigkeit ausweiten können. Dafür gibt es u. a. Begriffe wie Trauerkrankheit, chronische, pathologische und anhaltende Trauer. Das psychologische Verständnis dafür und therapeutische Empfehlungen kamen primär aus der tiefenpsycholo-gischen Theoriebildung und postulieren spezielle Phasen des Verlaufs, empfehlen zudem interventive Aktivitäten erst nach Abklingen einer angenommenen Schockphase.

In diesem Gegenstandsfeld gab es sowohl im theoretisch-konzeptionellen als auch praktischen Handlungsfeld jahrzehntelang kaum Fortschritte, auch kaum weiterführende empirische Befunde. Ein deutlicher Entwicklungs- schub ist in den letzten zwei Jahrzehnten zu verzeichnen. Seitdem wird Trauer auch im Konzept eines verhaltensregu.

Abbildung 3: Positionierung von chronischem Stress und Burnout in Beziehung zu psychische und somatischen Erkrankungen (DGPPN, 2012) individuelle Faktoren

Arbeitsplatzfaktoren Leistungseinschränkung.

4.Somatische und psychische Erkrankungen z.B. MS, Krebs, beginnende Demenz, Psychose, Depression + Z.73.0

1.Arbeitsüberforderung vorüber- gehend) vegetative Stresssymptome, Erschöpfung.

2.Burnout (Z.73.0) (Risikozus- tand: chronischer Stress) Erschöpfung, Zynis-mus, Leistungsminderung andauernde Überforderung S_1_ Schröder_VPP _03_ 2016. indd 5

20.07.2016 23:15:48 Verhaltenstherapie 6 & psychosoziale Praxis Schwerpunkt Harry Schröder latorischen Anfor- derungs- und Bewäl-tigungsparadigmas gesehen und damit empirischer Forschung besser zugänglich (Bonanno, 2012; Znoj, 2004). So konnten unterschiedliche Bewältigung-sverläufe klassifiziert werden, die vor dem Hintergrund personaler Bewältigungskom-petenzen erklärbar sind. Personen mit chronischer Trauer (persistierende Trauer-symptome auf hohem Intensitätsniveau) unterscheiden sich von Personen, deren Leid nach einem längeren Ringen weitgehend abklingt. Auch gibt es Personen, die bereits nach kürzerer Zeit mit der neuen Lebenssituation gut zurechtkommen (Trauerresilienz), ohne eine weniger enge Bindung an die jeweils verstorbenen Angehörigen gehabt zu haben (Bonanno, 2004). Was ist der Erklärungshintergrund? Der durch große Verluste eingetretene Anforderungstyp stellt (gleich der Definition von Stresszuständen) eine existentielle Bedrohung aller psychosozialen Grund- bedürfnisse dar und verlangt nach Bewältigungsaktivitäten, um sowohl zu einer inneren Konsistenz der Persönlichkeitsorganisation als auch zu einer kongruenten Außenbeziehung zur Mitwelt zu kommen.

Für die Effektivität dieses Prozess des Bilanzierens, Ordnens und Neuorientier, ensfür den der erlebte Kummer zunächst funktional ist, sind Personfaktoren im Kontext des verfügbaren Ressourcenpools mehr oder weniger hilfreich. Wenn man z. B. die Personcharakteristik von so genannten Trauerresilienten mit Personen in anhaltender Trauer vergleicht, so zeigen sich entscheidende Unterschiede in der Verfügbarkeit an Stressbewältigungs- kompetenzen (Abbildung 4). Der hier nur angedeutete Konzeptwechsel in der Betrachtung des Trauerphänomens hat bereits zu wesentlichen auch praktischen Schlussfolgerungen geführt.

Beispielsweise sind möglichst frühe Erstinterventionen (nicht erst nach Abklingen einer Schockphase von sechs bis acht Wochen) hilfreich.

Damit werden Fehlorientierungen im Trauerprozess vermieden und Therapie-bedarf reduziert sich.

Finale Lebensphase und Sterben: In der thanatologischen Grundla- genforschung fehlt nach wie vor eine integrierende Theorie. Wittkowski und Schröder (2008) bemängeln darüber hinausgehend differentielle Schlus-

sfolgerungen hinsicht-lich von situations - und personspezifischen Betreu- ungsbedürfnissen und betreuendem Handeln von Helfern.

Die Annahme genereller Phasen des Sterbeprozesses gibt auch bei flexibler Betrachtung ihrer Abfolgen lediglich für umschriebene Situationen kommunikative Orientierungen. In die weitgehend stagnierende wissenschaf- tliche Analyse dieses Themas kommen inzwischen neue Impulse: Auch in seiner letzten Lebensphase unterliegt der Mensch den allgemeinen Gesetzen der Verhaltensre-gulation, wird von seinen Grund-bedürfnisse bestimmt und ringt mit den ihm verfügbaren

Copingressourcen um das Erlangen von situativer Stabilität. Die Anfor- derungssituation ist durch den antizipierten Abschied von sich und der Welt extrem und ist gleichsam die größte narzisstische Kränkung, die Menschen hinnehmen müssen. Stressorenklas- sifikationen für diese Situation definieren von Person zu Person variierende Bewältigungsaufgaben:

Abbildung 4: Kompetenzen von „Trauerresilienten― im Vergleich zu Per-sonen mit anhaltender Trauer Situationstyp bei signifikanten Ver- lusten: Existenzielle Bedrohung von

Grund-bedürfnissen.

Kompetenzen von „Trauer- resilienten“ sind Stress bewältigungs- kompetenzen:

  • Anpassungsfähigkeit an wech- selnde Situationen;
  • Selbstwirksamkeitserleben;
  • optimistische Grundhaltung;
  • größeres Verhaltensrepertoire für Problemsituationen;
  • differenzierter Gefühlausdruck – emotionale Flexibilität;
  • Momente von Freude, Glück, Lächeln positive Erinnerungen geben, Trost genetische Komponente wird offenbar bei extremer Stressbelastung aktiviert.

Menschen sind auch bei Verlust und Trauer keine dem Trauerleid ausgelieferte Opfer, sondern aktive Subjekte S_1_ Schröder_ VPP_03_ 2016.indd 6 20.07.2016 23:15:49 47. Jg. (1), 63-76, 2015 7.

Das Stress konzept – in Theorie und Praxis moderner denn je Schwerpunkt:

  1. .aus der Ursache des Sterbens: Symptomkontrolle;
  2. .aus der Sterbesituation:

„preparation―;

  1. .aus der Vergangenheit: „life

completion―;

  1. .aus der Antizipation: „trans-

cendence― (Heyland et al., 2006;

Downey, Curtis, Lafferty, Herting & Engelberg, 2010; Hardecker, 2011).

Personseitig ist in dieser antizipierten totalen Trennungssituation das individuelle Bindungssystem hochgradig aktiviert.

Es bestimmt in Abhängigkeit von der jeweiligen Qualität („Stil―) sowohl die personspezifischen Betreu-

ungsbedürfnisse, das Copingverhalten und die Art erwarteter sozialer Unterstützung (Abbildung 5; Petersen & Köhler, 2005; Mikulincer & Shaver, 2007; Hardecker, 2011). Aus der Relation von individuellem Stres- sorenmuster und der Personspezifik der Betroffenen ergibt sich die jeweilige konkrete Situation, die eine differentielle Sterbebegleitung mit klaren Schlus- sfolgerungen für betreuendes Verhalten ermöglicht.

Sicherlich ist es zunächst befre- mdlich, die emotional belastete und traurige Abschiedssituation von

Sterbenden in funktionalistischen Begriffen des Stresskonzeptes zu beschreiben. Der Gewinn für eine humanistischen Prinzipien entsprechende Sterbebegleitung legitimiert dies sicherlich. Zugleich belegt dieses Beispiel ein weiteres Mal den universellen Geltungsbereich des Basiskonzeptes „Stress― – selbst für die Endphase menschlicher Existenz.

Wechselt man die Perspektive vom pathogenetischen zum salutogenetischen Konzept, so ist es angesichts des postulierten weiten Geltungsbereiches des Stresskonzeptes nicht verwunderlich, auch hier auf entsprechende Überschneidungen zu stoßen. Es sind weniger formale Anleihen oder Zufallsdoppelungen, sondern eher konstitutive Bestandteile innerhalb des allgemeinen Konzeptes menschlicher Anforderungsbewältigung – hier im Falle erfolgreicher, gesund-heitsförderlicher Bewältigung von Lebensaufgaben. In salutogenetischer Sicht stehen nicht die Defizite von Menschen im Fokus, sondern ihre verfügbaren Ressourcen. Ein entsprechendes Konzept neben anderen ist unter dem Begriff „Resilienz― aktuell, das die Wider- standsfähigkeit von Personen

thematisiert, die selbst unter extremen Anforderungen nicht dekompensieren, sondern als Persönlichkeit eher noch „wachsen―. Was charakterisiert diese Menschen? Ermittelt wurden vor allem: unter Handlungsdruck „flexibel― und „elastisch― reagieren können, gute Problemlöser in kritischen sozialen Situationen sein, Heraus-forderungen

annehmen, „konstruktive Anpassung―, „Balance erlangen und erhalten― (Becker,2006). Das sind letztendlich alles Personqualitäten, die auch in empirischen Untersuchungen im Rahmen des Stresskonzeptes ermittelt wurden. Letztendlich wird den Resilienten summarisch eine gute Fähigkeit zur Stressbewältigung bescheinigt. Ähnlich angelegt sind Untersuchungen zu per- sonalen Kompetenzen von „Hoch- gesunden―. Auch hier ist die Befundlage analog. Untersuchungen von Becker (2006) weisen auf Handlungs- kompetenzen hin, die in

Stresssituationen unter Handlungsdruck effektiv einsetzbar sind: u. a.

differenzierte Situationsbewertung,

Handlungsorientie-rung und ein großes Copingrepertoire, das weitgehend problemangepasst gezielt Lösungen ermöglicht.

Tabaebllee 1ll: e B 1in dungsstile, Copingverhalten und wahrgenommene Unterstützung in der Terminalphase Bindungsstil sicher unsicher-ambivalent unsicher-vermeidend Arbeitsmodelle,

Selbst, Andere positive-positiv-negativpositiv-positiv-negativ Copingstil instru- mentell alloplastisch palliative,

alloplastisch palliative, autoplastisch Erwartete soziale Unterstützung hoch (Inanspruchnahme eher selten) gering (Hilfescheidend, klammern, vermeidend) gering (distanziert, ablehnend, riskant) S_1_Schröder_VPP_03_2016.indd7 20.07. 2016 23:15:49 Verhaltenstherapie 8 & psychosoziale Praxis Schwerpunkt Harry Schröder Stress im Kontext gesellschaftlicher und epidemiologischer Entwicklungen Stress als Integrations- konzept ist für die Problematisierung des gesamten hierarchischen Gefüges men- schlichen Verhaltens offen. Das umfasst die Spanne von gesellschaftlichen Rahmen-bedingungen, die Anfor-

derungen bestim-men, bis hin zu

elementaren biologischen Mechanismen, die das individuelle Bewälti- gungsverhalten fundieren. Aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen haben mit epochalen Veränderungen der menschli-chen Lebenswelt gravierende Konsequen-zen für die Gesundheit und Krankheit der Lebenden. Um dieses wissenschaftlich und praxisbezogen im Detail zu erkennen und zu beeinflussen, benötigt man auch konzeptionell geeignete Erkenntnismittel. Das

Stresskonzept bietet sich in seiner geschilderten Potenz dafür an. Es „verdankt― seine erneute und gesteigerte Aktualität auch diesen Entwicklungen.

Epidemiologie:Die

Krankheitsberich-terstattung der letzten Jahre verweist auf beunruhigend ansteigende Krankheitsraten psychischer und körperlicher Störungen, die direkt oder indirekt mit der Bewältigung von Anforderungen assoziiert sind.

Erhebungen der Bundespsycho-

therapeuten kammer (BPtk, 2013) und auch einschlägiger Krankenkassen ergeben: Psychische Störungen machen inzwischen 26 % aller Erkrankungen aus, jeder vierte Arbeitnehmer leide an Symptomen eines Burnouts; gerade dieser gesundheitliche Risikozustand wurde zwischen 2004 und 2010 9-fach häufiger diagnostiziert. 2014 ermittelte die BPtk, dass 42 % der neuen

Frührenten psychisch verursacht sind. Der gesamtwirtschaftliche Schaden durch psychische Krankheiten in der Arbeitswelt betrage 50 Milliarden Euro (plus Produktivitätsverluste im Vorfeld und Frühverrentung; s.a. Gemeinsame Erklä-rung von Bundesministerium für Arbeit und Soziales et al., 2013; F.A.Z.- Institut & Techniker Krankenkasse, 2009).

Selbst vor professionellen

Vertretern des Gesundheitssystems machen arbeits-bedingte Belastungen

keinen Bogen (Abbildung 5). Im Mittelpunkt von Erklärungsversuchen dieser hier nur angedeuteten Entwicklung werden übereinstimmend Divergenz zwischen veränderten Anforderungen an das Individuum und seinen Bewäl-tigungspotenzen gesehen, die über Stressreaktionen zu gesundheitlichen Konsequenzen führen. In diesem Sinne sieht die WHO Stress als eine der größten Gesundheitsgefahren des 21. Jahrhundert an; 2020 wird voraussichtlich jede zweite

Krankschreibung auf Stress

zurückzuführen sein. Befunde der letzten zehn Jahre zu somatopathologischen Mikroprozessen und morphologischen Veränderungen unter den Bedingungen von chronischem Stress rücken über psychische Störungen hinausgehend führende Zivilisation-skrankheiten in den Blickpunkt. Die Bedeutung der für Herzinfarkt, Arteriosklerose, Adipositas, Typ-2-Diabetes und Schlaganfall präferierten Risikofaktoren Ernährung und Bewegung-smangel relativiert sich inzwischen. Chronischer Stress,

zuweilen auch als „toxischer― Stress bezeichnet (Olpe & Seifritz, 2014), scheint über den Nachweis von im Körper ablaufenden entzündlichen Prozesse eine zentrale Bedeutung zu haben. Waren bisher eher korrelative Beziehungen zwischen Stressbelastetheit und soma.

Abbildung 5: Epidemiologische Daten zum Gesundheitsstatus von Ärzten (Bergner, 2008; Heinze, 2011; Hübler et al., 2010) Ärzte (deutschlandweit, mehrere Studien):

  • 78 % resignativ oder unzufrieden mit Beruf; 37 % würden heute Beruf nicht mehr ergreifen;
  • Suizidrate Ärzte:3,4-mal/

Ärztinnen 5,7-mal höher als Allgemeinbevölkerung, über 30-fach

höheres Abhängigkeits- oder

Suchtrisiko;

  • 20-mal stärker von Scheidungen betroffen. 5– 10 % drogenabhängig

(USA: 9 %).

Stomatologen:

  • 35% der Niedergelassenen

erwägen Praxisaufgabe (Beger, 2006);

  • Chronischer Stress: jeder Dritte = 22.000 Zahnärzte;
  • Burnout-Symptome: 13.200 –

16.000 Zahnärzte;

  • Alkoholabhängig: 1.200 – 2.300 Zahnärzte;
  • Suizidrate unter Zahnmedizinern 1,5 bis 4,5 mal höher als Durchschnitt Arbeitender (vor allem 20- bis 40- Jährige und Über-65-Jährige; Hem, 2005; Stack, 1996)

S_1_Schröder_VPP_03_2016.indd 8

20.07.2016 23:15:49 47. Jg. (1), 63-76, 2015 9.

Das Stress konzept – in Theorie und Praxis moderner denn je Schwerpunkt tisch manifestierten Erkrankungen bekannt, so weisen vielfältige neuere Befunde auf ursächliche Wirkungsketten hin.

Exemplarische somatische Befunde zum chronischen.

Stress als Pathogen: Bereits in der vorgeburtlichen Phase beeinträchtigt anhaltender Stress die Ausreifung des Gehirns (Lupien, McEwen, Gunnar & Heim, 2009; Herschkovitz & Herschkovitz, 2009) und stellt von da ab ein Handicap für die weitere Leistungsfähigkeit und Stabilität von psychophysischen Funktionen dar. Die Anpassungsfähigkeit des Gehirns (Plastizität) reduziert sich durch synapsenschädigende Wirkungen des Stresshormons Kortisol (Davidson & McEwen, 2012). Anhaltend hohe Konzentrationen davon bewirken intrazellulär molekulare Veränderungen bis hin zu genetischen Modifikationen

(Joels & Baram, 2009; deKloet, Joels & Holsboer, 2005). Ein anderer beeinträchtigender Effekt ergibt sich dadurch, dass unter Stressbedingungen Hirnstammzellen reduziert und geschädigt werden, so dass sie nur in verringerter Zahl zur Zellerneuerung im Hippocampus zur Verfügung stehen. Folgen für Gedächtnisleistungen sind nachgewiesen, Bezüge zur Entstehung von Depressionen verdichten sich (Gould & Gross, 2002).

Ebenso verhängnisvoll sind anatomische Schäden in weiteren Hirnregionen, deren Bedeutung für die Verhaltensregulation und vor allem Impulskontrolle bekannt sind: Amygdala und präfrontaler Kortex. Zugleich gibt es Substratschädigungen in anderen Organ- bereichen.

Chronischer Stress verursacht Kortisolausschüttungen und Akti- vierungen des sympathischen Nerven- systems, die zu Suppressionen der Immunabwehr führt. Das wiederum bedingt entzündliche Prozesse vor allem in den Blutgefäßen mit schädigenden Plaqueeinlagerungen in den

Gefäßwänden. In Stresssituationen wird offenbar ein spezielles Protein in den Körperzellen aktiviert (Entzündungs- molekül NF-Kappa B), das solche Entzündungen und Abbauprozesse auslöst (Bierhaus & Nawroth, 2010). Die bisher dominierende Cholesterin- hypothese für die ursächliche Auslösung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen tritt damit in den Hintergrund.

Mit diesen und vielen analogen Befunden dürfte eine durchgehende ätiopathogenetische Wirkungskette von chronischem Stress bis hin zu substanziellen körperlichen Folgeschä- den nachgewiesen

Abbildung 6: Anforderungswandel in den modernen Industrieländern (Schröder, 2002a):

  • Globale Probleme –

Existenzängste („Dauerkrise―);

  • Überschleunigung;
  • Arbeitsverdichtung;
  • Entrhythmisierung des Alltags
  • Arbeitsplatzunsicherheit;
  • Auflösung von Normativen;
  • Ungebremster Individualismus;
  • Entsolidarisierung;
  • Stetige personale Verfügbarkeit;
  • Regeneration;
  • Multiple Mobilitäten (Beruf, Familie, sozial);
  • Personalrationalisierung („auf Kante genäht―);
  • Unrealistische Vorgaben von Vorgesetzten;
  • Konkurrenzdruck ;
  • Dienstleistungsansprüche von

Kunden gestiegen;

  • Spezielle Probleme in den Organisationen.

„Nichts ist mehr sicher, alles ist möglich― „Riskante Chancen―

S_1_Schröder_VPP_03_2016.indd 9 20.07. 2016 23:15:50 Verhaltenstherapie 10 & psychosoziale Praxis Schwerpunkt Harry Schröder sein. Befunde der Epigenetik belegen inzwischen

umweltbedingte Genveränderungen, die selbst für die Auslösung von Stressreaktionen verant-wortlich zeich- nen. Es geht um vererbte Stres- sempfindlichkeiten und um solche, die im Verlauf des Lebens erworben werden (so genanntes Anund Abschalten von entsprechenden Genen in Bela- stungssituationen).

Es sind offenbar teufelskreisartige Selbstverstärkungen der Stressreaktion möglich (Champagne & Meaney, 2007; Olpe & Seifritz, 2014). Die angedeuteten neueren Forschungslinien mit bemer- kenswerten Befunden zeugen davon, dass sich die somatische Medizin der langen Zeit als eher belletristisch angesehen Stresskonzeption substanziell

öffnet. Sie schließt sich auch Fragen nach den außerhalb des engeren medizinischen Denkens liegenden Ursachen für die epidemiologischen Entwicklungen von Krankheiten auf. Davon zeugt u. a. auch ein repräsentativer Sammelband, der unter dem bezeichnenden Titel

„Stressmedizin― gerade erschienen ist (Haurand, Ullrich & Weniger, 2015).

Epochaler Anforderungswandel: Die biologischen Mechanismen der menschlichen Verhaltensregulation

reprä-sentieren einen Pol im hierar- chischen Aufbau von Wirkzusam- menhängen. Die extreme Entgegen- setzung ist die Frage nach den veränderten gesellschaftlichen Umstän- den, die über soziale Vermittlungen das Individuum tangieren und sich bis in sein biologisches Substrat auswirken.

Dazu gibt es seit Jahren eine umfangreiche interdisziplinäre Diskus- sion. Im Kern steht die Erkenntnis, dass fundamentale gesellschaftliche Verän- derungen in den modernen Industrie- gesellschaften zu einem epochalen Anforderungswandel in allen Bereichen der Gesellschaft führten, dem die Individuen mit ihrer bisherigen Kompetenzausstattung nur partiell genügen können. Ursächliche

Basisprozesse dieser Veränderungen werden durch die Begriffe „Globali- sierung―, „Internationalisierung―, „Flexi- bilisierung―, „informationelle Vernet- zung― und „qualitative Veränderung der Produktivkräfte― beschrieben.

Folgen für die unmittelbaren Leben-sanforderungen der Menschen zeigen sich in allen Lebensbereichen, nicht allein in der Arbeitswelt (Abbildung 6).

Markante Formulierungen veran- schaulichen den Anforderungsdruck und auch den Bedrohungsgehalt dieser Veränderungen, wie „24-Stunden-Turbo- welt―, „riskante Chancen―, „Individua- lisierungsschub―, „Ich-AG―, „nichts ist mehr sicher und bewährt―, „Erfahrung zählt nichts―, „alles ist mög.

Abbildung 7:

Psychotherapeutische Ansatzstellen bei stressassoziierten Symptomen .

Persönlichkeitsstabilisierung:

Identitätsfindung, Empowerment, Selbst- und Zukunftskonzept, Handlungs- fähigkeit .

Zustandsregulierung:

Management von Stresserleben,

Folgenreduktion.

Bedingungsgestaltung:

Stressorenreduktion, Ressourcenerweite- rung und –pflege.

Belastungsbewältigung:

Bewertungen, Coping-Erfahrung, Copin- gverhalten, Ressourcennutzung S_1_ Schröder_VPP_03_2016.indd 10 20.07. 2016 23:15:50 47. Jg. (1), 63-76, 2015 11 Das Stress konzept – in Theorie und Praxis moderner denn je Schwerpunkt lich―, „niemand weiß, was kommt―. Von daher sind stressauslösende bedür- fnisbedrohende und –beeinträchtigende Lebenslagen in Größenordnung gegeben und lassen sich im Einzelfall konkret bis hin zu psychischen und somatischen Krankheitsmani-festationen nachvol- lziehen. Vertreter aller Gesund- heitsberufe sind in der Praxis jeden Tag mit den Auswirkungen dieser Entwicklung konfrontiert.

Als Kommunikationsvokabel wird zumeist der Begriff „Überforderung― benutzt. Darin repräsentiert sich in verkürzter Form die gesamte Problematik, die das Stresskonzept als Orientierungs- und Erklärungsrahmen ausgearbeitet anbietet.

Stressintervention in anhaltender Konjunktur: Angesichts der epidemiologischen Krankheitsdaten und des inzwischen entstandenen Problem- bewusstseins über den Stellenwert von chronischem Stress bei der Entstehung nahezu aller Erkrankungen, gibt es auch eine ansteigende Welle von Interventionsbemühungen.

Entsprechend der im Stresskonzept als essentiell konzipierten Divergenzen zwischen Anforderungen und Bewälti- gungspotenzialen der Betroffenen geht es vom Grundansatz her um die Beseitigung bzw. Milderung stres- sauslösender Bedingungen („Verhäl- tnisgestaltung―, „Verhältnis-prävention―) und um die Förderung von individuellen Bewälti-gungskompetenzen („Verhal- tensverän-derung―, „Verhaltensprä-

vention―; vgl. Heinrichs, Stächele & Domes, 2015).

Dies zeigt sich exemplarisch in weiter zunehmenden Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung,

Interventionsprogrammen der Kran- kenkassen und privaten Anbietern verschiedener Berufssparten. Unser eigenes Stress-bewältigungsprogramm „Optimis-tisch den Stress meistern― (Reschke & Schröder, 2010) hat anhaltende Konjunktur; inzwischen sind mehr als 300 Kursleiterinnen deutschlandweit ausge-bildet worden. Die neuen Befunde zum ätiopathogenetischen Stellenwert von chronischem („toxischem―) Stress bei der Entstehung der modernen Zivilisa- tionskrankheiten lässt weiter ansteigenden Interventionsbedarf erwarten, zumal Stressbelastung/Stressbewältigung in allen Phasen und Zuständen von Krankheit und Kranksein eine Rolle spielen:

  • Als Vulnerabilitätsfaktor bei psychischen Störungen (z. B. pränatale und frühkindliche Traumatisierungen).
  • Als auslösender Faktor bei psychischen und körperlichen Erkran- kungen (z.B.Depression, Panik, Schizo- phrenie, Schmerz, Herz-Kreislauf- Erkrankungen).
  • Für den Verlauf von Störungen
  • Für den Therapieerfolg sowie die Aufrechterhaltung von therapeutischen Effekten.

Kaum eine Psychotherapie kann auf die Vermittlung von Kompetenzen zur Stressbewältigung verzichten (Abbildung 7). Die Vermittlung solcher Fertigkeiten sollte gleich anderen Kulturtechniken zu einem obligatorischen Bestandteil bei der Gestaltung von Erziehungs - und Bildungsprozessen werden. Krankheits- prävention und besser gelingende Lebensbewältigung in einer von Unwä- gbarkeiten und permanenter Transition geprägten Zeit wären ein Gewinn für alle in dieser Zeit lebenden Menschen.

 

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  48. Funktionen am Institut für
  49. Psychologische Therapie e. V.Leipzig tätig, vorwiegend als Supervisor und Lehrtherapeut, auch an anderen Ausbildungsinstituten (u. a. Gießen, Dresden).
  50. 28. Weitere Angaben, z. B. zu Publikationen und Projekten, siehe www.psychotherapie-harry-schröder. de.S_ 1_Schröder_VPP_03_2016.indd 12 20.07. 2016 23:15:50 47. Jg. (1), 6376, 2015 13 Das Stress konzept – in
  51. Theorie und Praxis moderner denn je Schwerpunkt Korrespondenzadresse
  52. Prof. Dr. phil. habil. Harry Schröder IPT e.V.Leipzig Schützenstraße 4 04103
  53. Leipzig Internet: www.psychotherapie- harry-schröder.de S_1_Schröder_VPP_03_2016.indd 13 20.07.2016 23:15:50 Verhaltenstherapie 14 psychosoziale Praxis Schwerpunkt Harry Schröder S_1_Schröder_
  54. VPP_03_ 2016.indd 14 20.07.2016

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