Eine zweite Sprache oder noch weitere Sprachen gebrauchen zu können, ist für viele Menschen eine Selbstverständlichkeit. Ungerechtfertigterweise wird mit dem Begriff «Spracherwerb» gemeinhin vor allem der Erstspracherwerb assoziiert, als handele es sich beim Zweitspracherwerb um eine in einer bestimmten Hinsicht sekundäre Manifestation der menschlichen Sprachfähigkeit [1]. Ein nicht gleichbedeutender, aber dazu passender Irrtum besteht darin, den Erwerb einer zweiten Sprache von vornherein als immanent problematischen, im Vergleich zum Erstspracherwerb weitaus mühevolleren Lernprozess zu betrachten, dessen Ausgang geradezu zwangsläufig in einer defizitären zielsprachlichen Kompetenz bestehen müsse. Die für Deutschland im internationalen Vergleich so niederschmetternden Ergebnisse der PISA [2] und IGLU-Studie [3], die gerade auch mehrsprachigen Kindern mit Migrationshintergrund beunruhigend schlechte Leistungen bescheinigen und dies zu einem großen Teil auf sprachliche Defizite zurückführen, haben zusätzlich dazu beigetragen, diese weit verbreitete zurückhaltende Einstellung zum Zweitspracherwerb zu zementieren. Dass die unzureichende Beherrschung der Zweitsprache Deutsch die dokumentierten schulischen Misserfolge [4] wesentlich bedingt, soll natürlich nicht bestritten werden, ebenso wenig die Tatsache, dass viele Migrantenkinder zum Zeitpunkt der Einschulung nicht in der Lage sind, dem deutschsprachigen Regelunterricht zu folgen. Das haben Sprachstandserhebungen u. a. in Berlin, Essen und Niedersachsen [5, 6] Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport deutlich gemacht. Zu behaupten, Kinder lernten eine sie in ihrer Lebensweltumgebende zweite Sprache automatisch und immer mühelos, hieße, die Augen vor der Realität zu verschließen [7].
2012
Gau K., Кarmanova Zh.A.